Tagebuch eines Deutschlehrers
Eric Bolle ist Deutschlehrer. Er hält Hölderlin für den Dichter, der am besten geeignet ist, junge Leuten in ihrer Entwicklung zu unterstützen. Aber ist das auch die Meinung seiner Schülerinnen und Schüler? Lesen Sie in diesem Tagebuch, was sie über Hölderlins Theaterstück Der Tod des Empedokles denken.
Sommerferien 2014
Warum Hölderlin bei der Reifeprüfung? Ein Rückblick auf mein Leben mit Hölderlin.
Interessant, aber kaum zu lesen
In meiner Schulzeit war der Gedanke lebendig, dass das klassische Altertum noch immer aktuell ist. Vor allem Sokrates und Seneca vermittelten Vorbilder von Aufrichtigkeit und Besonnenheit. Aber stimmte unser Bild vom Altertum und wer könnte uns führen? Wer konnte behilflich sein, die Aktualität des klassischen Denkens für zeitgenössische Fragestellungen ersichtlich zu machen? Man würde erwarten, dass man zuerst an Nietzsche dachte, doch es war Hölderlin, dessen Name immer wieder genannt wurde.
Aber seltsam genug wurde er nicht gelesen. Man blätterte durch seine Werke, fand ihn aber für Schulzwecke zu schwierig. Das habe ich später an der Uni auch oft gehört. Hölderlin sei zu schwierig. Trotzdem ist sein Name in aller Munde. Das hat mit Paris 1968 (ich war damals vierzehn) und mit der literarischen Darstellung der Revolution zu tun. Hölderlin selbst war zu schwierig, aber man las das Stück von Peter Weiss, betrachtete Hölderlin als Revolutionär und war vom Gedanken, dass Marx sich von Hölderlin habe anregen lassen, total begeistert.
Marx schrieb seine Pariser Manuskripte 1844. Ein Jahr früher war Hölderlin gestorben. Der Gedanke, dass Hölderlin Fürsprecher gesellschaftlicher Veränderung war und dass er wie kein anderer wusste, was Entfremdung bedeutet und wie man sie überwinden kann, war damals sehr aufregend. Man sieht, wie sich das Bild ändert. Im Gymnasium war vom klassischen Altertum die Rede, als ich Deutsch studierte, war die Veränderbarkeit der Welt das große Thema. Aber weder in der Schule noch an der Uni wurde Hölderlin gelesen.
Ein dritter Aspekt, der für mich als junger Mann mein Bild von Hölderlin vervollständigte, war Hölderlins Wahnsinn. Dieser Wahnsinn sprach viele Menschen an, weil man die Gesellschaft als Repressions- und Disziplinierungsmaschine aufzufassen anfing. Für den französischen Philosophen Michel Foucault war Hölderlin das große Beispiel eines gelungenen Ausbruchs aus der Normalisierung der bürgerlichen Gesellschaft. Ist Wahnsinn im Zeitalter Hölderlins vor allem eine Art der déraison, bekommt der Wahnsinn durch Hölderlin eine Sprache, die der Vernunft etwas zu sagen hat. Der Wahnsinn zeigt den Weg zu einem anderen Denken und zu einer authentischeren Existenz als der üblichen. Die Entfremdung wird nicht aufgehoben, sondern radikalisiert. Foucault schätzt nicht die Harmonie, sondern die unausgesöhnte Zerrissenheit bei Hölderlin.
Das Altertum, die Revolution, der Wahnsinn. Drei Stichworte, warum Hölderlin so wichtig ist, aber noch immer habe ich ihn nicht gelesen. Noch immer versuche ich, allein in die Texte einzusteigen. Was sich aber ändert ist, dass es immer mehr Menschen in meiner Umgebung gibt, die sich mit Hölderlin beschäftigen möchten. An der Uni kommt es jedoch zu keinem einzigen Seminar, zu keiner einzigen Gelegenheit, sich mit ihm auseinanderzusetzen und ihn einfach zu lesen. Eine Ausnahme bildet der große Hölderlinforscher Gerhard Kurz, der in den Jahren 1980-1984 an der Universiteit van Amsterdam lehrte und dem ich 1980 begegnet bin. Kurz hat mir sehr geholfen, aber auch er fand damals Hölderlin zu schwierig, um ein Seminar über ihn zu veranstalten.
Forschung und Kulturpolitik
Meine Isolierung in Sachen Hölderlin endete erst in den Jahren 1985 – 1986. Ich war mittlerweile Anfang dreißig und erhielt ein Stipendium der Fritz Thyssen Stiftung, um über Heideggers Hölderlininterpretationen, die gerade erschienen waren, zu forschen. Zum ersten Mal konnte ich mich professionell mit Hölderlin beschäftigen. Ich sollte mich aber sofort zu einem Symposium in Bad Homburg anmelden. Dieses Symposium bedeutete für mich ein gewaltiger Schock. Nachts konnte ich nicht schlafen. Ich kam nicht zur Ruhe. Dass man so detailliert auf Texte eingehen kann, dass man so genau ersichtlich machen konnte was man sehr wohl oder was man nicht wusste, dass die Deutungen so stark auseinander liefen, obwohl jede Interpretation doch deutlich den höchsten wissenschaftlichen Standards genügte, das war völlig neu für mich und auch völlig unbekannt in den Niederlanden.
Trotzdem gab es hier für mich als niederländischem Philosophen eine klar umrissene Aufgabe und zwar eine Brücke zwischen französischer und deutscher Philosophie zu schlagen. Es gab also außer der wissenschaftlichen auch eine kulturpolitische Aufgabe. Und es geschah auch etwas ganz unerwartetes. In Holland war das Interesse für Hölderlin so angewachsen, dass die SLAA (die Stiftung Literarische Aktivitäten Amsterdam) ihm ein ganzes Programm widmete. Aus meinen gerade erst angeknüpften Beziehungen konnte ich Michael Franz und Christoph Jamme nach Amsterdam einladen.
Der liebste Wunsch
Aber dann wird es lange still. Mein Lebenslauf nimmt eine andere Wendung und ich mache andere Dinge. Ich bin zwar noch oft mit Hölderlin beschäftigt, aber spreche nicht mehr über ihn in der Öffentlichkeit bis ich 2009 (also zwanzig Jahre später) zum ersten Mal wieder im Amsterdamer Lyrikzentrum Perdu zusammen mit Stefan Hertmans einen Vortrag über Hölderlin halte. Aber auch dieser Vortrag und andere Veranstaltungen und Veröffentlichungen über Hölderlin, die darauf folgen, führen nicht zu einer gemeinsamen Lektüre von Hölderlins Werk mit anderen. Das ändert sich erst 2010, als ich Deutschlehrer wurde. Aber auch dann brauche ich noch vier Jahre, bevor ich zum ersten Mal mit meinen Schülern Hölderlin lese.
Wie habe ich das geschafft und warum war das so schwierig? Warum ist Hölderlin für mich persönlich so wichtig? Natürlich möchte ich an erster Stelle, dass meine Schülerinnen und Schüler das bekommen, was ich mir in ihrem Alter am meisten gewünscht habe. Ich hätte es wunderbar gefunden, Hölderlin im Abitur behandeln zu dürfen. Das passiert jetzt bei mir in der Schule. Und seltsam genug an erster Stelle wegen seines Bildes vom Altertum. Denn die Schüler wissen nur wenig über diese Zeit. Der Plan, zusammen zu lesen, warum Hölderlin diese Periode als wichtigste Blütezeit der Geschichte betrachtete, fand sofort Widerhall. Man war direkt bereit, die Athenerrede aus dem Hyperion zu lesen. Nach der Lektüre fand man den Text zu idealistisch, aber doch sicher der Mühe wert. Dass ausgerechnet das Interesse für Athen ein Motiv für meine Schüler sein könnte, hätte ich nie gedacht, aber es gefällt mir, jetzt mit meinen Schülern an mein Ausgangsort zurückgekehrt zu sein. (1)
Bei meinen Versuchen, Hölderlin auf den Lehrplan zu setzen, habe ich wichtige Anregungen bei den Jahrestagungen der Hölderlin-Gesellschaft bekommen. Man muss feststellen, dass es ohne Unterstützung aus Deutschland kaum möglich ist, etwas mit diesem Dichter in Holland zu tun. Das erklärt auch, warum man so selten in den Niederlanden versucht hat, diesem Dichter Aufmerksamkeit zu schenken, und warum es so schwierig ist, ihm einen Platz im universitären Unterricht zu geben.
Für mich persönlich
Für mich persönlich ist Hölderlin so wichtig, weil er eine Position einnimmt, die sich auch jetzt noch und vielleicht heute mehr noch als früher verteidigen lässt. Für Hölderlin war Freiheit das Wichtigste, aber das heißt noch nicht, dass der Mensch autonom ist. Der Streit mit der Welt ist notwendig, um zu Bewusstsein zu gelangen, und das geht nicht ohne Konflikte. Diese Konflikte betreffen nicht nur das Verhältnis zu anderen Menschen, sondern auch zum eigenen Bewusstsein. Wenn der Mensch über sich selber nachdenkt, entdeckt er das Absolute in sich selbst, dass die Welt einen einzigen großen Zusammenhang darstellt, aber dass er von diesem Zusammenhang ausgeschlossen ist. Das Absolute entzieht sich seinem Zugriff und keine einzige Wissenschaft oder Technik bietet Zugang zum Wesentlichen, das sich uns entzieht. Nur manche Augenblicke gelingt es uns, eins mit der Welt zu werden und unsere Konflikte zu vergessen.
Für diesen Bewusstwerdungsprozess, der im Streit mit der Welt stattfindet, manchmal aber eine einzigartige Verzückung kennt, hat Hölderlin Worte gefunden, die man nirgendwo sonst findet. Dass man für seine Existenz dankbar sein kann weil man das Absolute in seiner Unzugänglichkeit in seinem Inneren erfahren kann, dass es ein Andenken gibt, das quer durch Verlust und Abschied hindurch die Erfahrung des Seins möglich macht, das macht Hölderlin so aktuell und ist der Grund, weshalb er soviel Begeisterung auslöst. Es ist nicht sosehr sein Bild des Altertums, seine revolutionäre Gesinnung oder die Beseelung des wahnsinnigen Dichters, es ist, dass bei ihm die Schönheit der Verschmelzung mit der Welt das letzte Wort hat.
Wenn die menschliche Entwicklung (Bildung) nicht ohne Konflikte mit einem selbst und der Welt möglich ist, dann heißt das für den Unterricht, dass man den Schülern ihre Probleme nicht abnehmen, sondern die Bedingungen schaffen soll, unter denen sie die Lebensphase, die sie durchmachen, verstehen können. Auf der Suche nach dem Sinn des Lebens und der eigenen Identität gibt es wohl keinen Autor, der dem Adoleszenten so viel zu sagen hat wie Hölderlin. Das ist jedenfalls meine Meinung, aber wird sie von den Schülern geteilt? Wir machen die Probe aus Exempel und stellen Den Tod des Empedokles auf die Tagesordnung der Endprüfung.
25.10.2014 Die erste Stunde
In der ersten Stunde lesen wir den ersten langen Satz aus dem Frankfurter Plan. Wir lernen einen Empedokles kennen, der Streit mit seiner Frau hat, weil er keine Lust hat auf ein Fest zu gehen, und der sich mit der Zersplitterung seines Daseins schwer tut. Er weigert sich, sich von allerlei Dingen, die er nacheinander tun soll, auffressen zu lassen, und hasst darum die Kultur seiner Umgebung. Er will eigentlich alles auf ein Mal sein, mit der Natur zusammenfallen und in Ruhe gelassen werden. Er will nicht relativieren, er will mit dem Absoluten verschmelzen.
Meine Frage an die Schülerinnen und Schüler lautet: was ist Nihilismus und ist Empedokles ein Nihilist? Jeder Schüler gibt seine eigene Definition des Nihilismus. Nihilisten glauben an nichts, erkennen die Existenz anderer Dinge nicht an und das Leben interessiert sie nicht. Sie erkennen nichts an und glauben, dass es nichts gibt. Sie verwerfen und verneinen alles. Nichts macht für sie einen Unterschied. Gott ist tot und seitdem ist alles Zufall. Sie können nichts mehr würdigen und nehmen eine passive Haltung an. Sie reduzieren alles auf das nackte Dasein und schwimmen im unendlichen Meer des Nichts.
So etwa sehen sie den Nihilismus. Die Frage, ob Empedokles ein Nihilist sei, wird verneinend beantwortet. Alle Schüler sagen nein. Nein, denn andere sind abhängig von ihm. Nein, denn er will Gott sein und Menschen führen. Nein, denn er betrachtet sich selbst als Gott und ist also kein Nihilist. Nein, denn man kann sowieso kein Nihilist sein. Nein, denn Empedokles ist für sich selbst das einzige Gute in seiner eigenen Welt. Nein, denn er liebt noch bestimmte Menschen und Dinge. Nein, denn man kann nicht ohne Anerkennung hassen. Nein, denn sonst wäre er nicht verheiratet.
Meine Auffassung, dass Empedokles ein Revolutionär ist, der mit dem Fehlen einer Rechtfertigung für die Verwaltungsart von Agrigent ringt, findet in der Klasse keine Zustimmung. Meine Meinung ist, dass Empedokles ein Nihilist ist, weil er daran zweifelt, ob es überhaupt eine Legitimation für politische Entscheidungen geben kann, wird von der Klasse nicht geteilt.
9.10.2014 Der grundlose Grund des Gesetzes
Im zweiten Fragment erklärt Empedokles den Einwohnern von Agrigent, dass sie in eine neue Phase ihrer Geschichte eintreten können, wenn sie auf der Basis der individuellen Freiheit der Bürger eine Demokratie stiften. Aber ehe man mit der Demokratie anfangen kann, sollte man schon frei sein. Frei ist, wer sich realisiert, dass er jederzeit selbst auch wählen kann, zu sterben. Selbstmord ist höchste Freiheit. Schon das Nachdenken über das selbstgewählte Ende, gleichsam als Gedankenexperiment, macht frei. Und man muss ein freier Mensch sein ehe man mit der Demokratie anfangen und sich daran beteiligen kann. Was halten die Schüler von diesem Gedanken?
Das erste, was ihnen auffällt, ist dass Empedokles zu Änderungen aufruft, aber auch einsieht, dass Menschen gewöhnlich keine Lust dazu haben. Schüler wissen nur allzu gut, wie schwer es ist, Verhaltensmuster, Rollen und Konventionen zu durchbrechen. Außerdem misstrauen sie dieser Auffassung vom Selbstmord. Sie steht im Widerspruch zu heutigen Deutungen. Die Klasse will Empedokles nicht folgen. Er löst Irritation aus, er ist zu rechthaberisch.
Aber es gibt auch Schüler, die das Lehrstück des Empedokles mit der Freiheit vergleichen, wie Platon sie im Höhlengleichnis beschreibt. Empedokles steht ganz im Licht der von ihm geschauten Idee und kann sich durch einen reinigenden Tod neu erfinden, wie auch Platon gelehrt hat. Dieser Vergleich ist wichtig, weil es ja die Absicht ist, mehr über das klassische Altertum in Erfahrung zu bringen und einzusehen, dass andere Menschen in der Geschichte wirklich anders gedacht haben als wir.
Der Selbstmordplan des Empedokles muss also anders, als wir heute gewohnt sind zu denken, nicht als eine Tat von Verzweiflung und Depression eingestuft werden, sonder als eine Wahl zur Erneuerung. Indem man freiwillig sein Leben beendet, geht man in der Natur auf, aus der man stammt. Dieser Verlust der eigenen Identität ist für Empedokles ein Verjüngungsbad und eine Art Wollust und Ekstase. Etwas heiteres, nicht betrübtes. Er vertraut auf die Reinkarnation. Weil diese freie Entscheidung die Grundlage der Demokratie bildet, kann man die Worte des Empedokles als grundlosen Grund des Gesetzes interpretieren. (2)
16.10.2014 Manes provoziert Empedokles
Aber stimmt es wirklich, dass die Stadt in eine neue Phase eintritt, wenn Empedokles stirbt? Wird das Opfer (denn es ist ein Opfer) helfen und handelt es sich tatsächlich um eine historische Tat, einen Wendepunkt in der Geschichte? Hölderlin führt eine neue Figur in das Stück ein. Sein Name ist Manes. Er zwingt Empedokles nochmals über seinen Anspruch nachzudenken. Dabei weist er auf Dionysos und Christus hin. Ist Empedokles auch so ein Retter und Erlöser wie sie? Lässt sich sein Opfer vergleichen mit Brot und Wein? Ist er wirklich der Stellvertreter des Heiligen Geistes, der Mann, der das Band zwischen Himmel und Erde verknüpft und die Geschichte erneuert? Natürlich muss die Klasse lachen, wenn ich erzähle, dass Geist und gist (niederländisch für Hefe) verwandte Wörter sind und dass Jesus Wasser in Wein verwandelt hat. Sind die Schüler wie Manes der Meinung, dass Empedokles seinen Anspruch nicht geltend machen kann, oder haben sie eine andere Auffassung?
Manche Schüler verstehen auch nach wiederholtem Erklären nicht, wovon die Rede ist. Das Stück weicht zu sehr ab von dem, was sie gewohnt sind. Aber andere Schüler ziehen Parallelen zu Platon und sind sich dessen bewusst, dass man im Altertum anders über Tod und Selbstmord gedacht hat als wir. Es gibt jedoch wohl eine Art Konsens, dass Manes etwas falsch macht, wenn er Empedokles so mit seinen Fragen herausfordert. Statt ihn zu beschwichtigen, provoziert er ihn. Trotzdem macht die Entschlossenheit von Empedokles einen tiefen Eindruck und die Schüler werden neugierig, wie das Streitgespräch zwischen beiden Männern enden wird. Manes wählt in ihren Augen für die falsche Methode.
29.10.2014 Des Empedokles Replik
Am Anfang der Stunde bitte ich einen der Schüler, die vorige Stunde kurz zusammenzufassen. Das gelingt einwandfrei. Dann frage ich die Schülerinnen und Schüler, ob sie aufschreiben wollen, wie sie denken, wie Empedokles auf Manes reagieren wird. Die Klasse gibt folgende Antworten:
Empedokles wird Kritik üben an Manes. Empedokles will für das Volk in den Ätna springen, er ist ein außergewöhnlicher Mensch. Alles ist eins, Empedokles bringt alles in einem neuen Zustand zur Ruhe. Er ist von sich selbst überzeugt. Er reagiert in der selben herausfordernden und spottenden Tonart wie Manes. Er widersetzt sich. Manes versteht ihn nicht. Es geht weder um Recht noch um Ehre und eigentlich auch nicht um ein Opfer, denn Empedokles ist seines Lebens überdrüssig. Es wird eine philosophische Diskussion über Ideale geführt; Empedokles bleibt ruhig bei seinem Standpunkt.
Die Schüler lesen nun still des Empedokles Replik an Manes. Das Deutsch bietet ihnen viele Schwierigkeiten. Um ihnen zu helfen, schreibe ich die wichtigsten Stichwörter aus dem Text an die Tafel und erkläre ich die schwierigsten Stellen. Es geht darum, dass Empedokles bekümmert ist um das arme Volk. Er blickt zurück auf ein vorheriges Stadium des Aufruhrs, als jederman in Panik versetzt war und eine gesetzlose Lage herrschte. Empedokles interpretiert diese Phase im Bürgerkrieg als den scheidenden Gott seines Volks.
Aber jetzt sind wir in eine neue Phase eingetreten. Empedokles ist der Meinung, dass er nur, indem er sich selber opfert, dem Aufruhr ein Ende setzen kann. Und das tut er umso lieber, als er im Tod das Leben sieht. Heute noch wird es ein Fest geben und wird eine Zeremonie stattfinden, bei der Gott ihn mit einem Blitz hinwegrafft. Bei dieser Feier soll er einen freien Tod nach göttlichem Gesetz finden. Empedokles lädt Manes ein, mit ihm zusammen zu gehen, aber falls er nicht will, zu schweigen und sich des Urteils zu enthalten. Es stellt sich also heraus, dass die Handlung so wie die Schüler es vorausgesagt haben weiter geht.
Zum Schluss der Stunde frage ich die Schüler, was sie denken. Gibt Manes Empedokles recht oder nicht? Man wählt etwa fünfzig zu fünfzig Prozent. Was stellt sich heraus? Manes gibt Empedokles recht und wird dem Volk erklären, dass Empedokles der Heiland und Erlöser ist.
Während dieser Stunde sind drei bemerkenswerte Dinge passiert. Ein Schüler weist darauf hin, dass wenn alles eins ist, der Unterschied zwischen Leben und Tod für Hölderlin nicht so wichtig sein kann wie für uns. Und damit hat er recht. Das hat mit Hölderlins Pantheismus zu tun, mit seiner Gleichsetzung Gott = Natur. In der Natur bilden Leben und Tod eine Einheit in Gestalt eines durchgehenden Zyklus.
Ein zweiter Schüler geht hierauf ein. Wenn man keine Angst mehr vor dem Tod hat oder sich sogar nach dem Tode sehnt, dann hat man überhaupt keine Angst mehr und ist man immer ruhig. Hölderlins Empedokles will uns in der Tat von der Angst befreien. Hier sieht man vor allem der Einfluss des Stoizismus auf Hölderlin.
Ein dritter Schüler traut dem nicht. Ist Empedokles nicht eine Art Populist und nimmt sein Todestrieb nicht Hitler vorweg? Meine Reaktion ist, dass um 1800 Hitler noch weit weg ist, aber dass es richtig ist, dass Hölderlin als einer der ersten den Todestrieb erkannt und darüber ein Theaterstück verfasst hat. Hölderlin hat vielleicht als erster die Bedeutung des Todesverlangens in der abendländischen Kultur gesehen. Darauf erwidert der Schüler, dass er nun einmal sehr misstrauisch ist. Ich bitte ihn, dieses Thema beim Abitur weiter auszuarbeiten und zu untersuchen, ob er seine These über Populismus weiter untermauern kann.
30.10.2014 Empedokles in Trance
Heute betrachten wir das Werk zweier Künstler, Marcel Wesdorp und Otto Egberts. Hat ihr Werk mit Hölderlin zu tun? Kann es uns helfen, ihn besser zu verstehen? Und umgekehrt, hilft das Vokabular Hölderlins uns, uns dieser Kunst anzunähern? Wir betrachten einen Filmausschnitt von Wesdorp und ein Gemälde von Egberts (Tot ergens aan voorbij). Was fällt den Schülerinnen und Schülern auf?
Am Herzschlag im Filmausschnitt von Wesdorp fällt auf, wie gleichmäßig er ist. Wenn er den Herzschlag von Empedokles kurz vor dem Absprung darstellen soll, dann würde man doch erwarten, dass er schneller geht. Aber ein anderer Schüler findet, dass der Puls gerade ruhig sein sollte. Empedokles ist ruhig, festentschlossen und steht kurz vor der Erfüllung seines Wunsches. Die Meinungen gehen auseinander, wenn es um die Stimmung, die der Film auslöst, geht. Manche finden sie tragisch und unheimlich. Andere sehen darin viel mehr einen Traum, eine Trance, eine singende Sirene. Der Ausschnitt gibt in seiner Öde doch schön die Freiheit wieder, ein auf sich zurück gefallen sein und über das eigene Schicksal entscheiden können ohne jedweden Einfluss anderer Menschen.
Ich erzähle der Klasse, dass Wesdorp den Bezug auf Empedokles als eine legitime Deutung seines Werks betrachtet. Ich fand es selbst beängstigend, als ich es zum ersten Mal sah. Ich bekam einen Albtraum und fühlte mich in den Bildern eingesperrt. Ich wollte raus. Aber ich weiß auch, dass es Menschen gibt, die das Werk mögen, weil sie davon das Gefühl zu schweben bekommen. Eine Schülerin fasste die Diskussion schön zusammen: beängstigend für uns, befreiend für Empedokles.
Am Werk von Egberts fällt der Klasse auf, dass es nur absolute Farben gibt, nichts ist relativ, alles Relative ist weggeschafft. Es gibt nichts zu sehen, der Blick geht nach innen. Das kann nie der Ätna sein. Oder doch? Die Bilder strahlen Zwang und Unwissenheit aus, das Leben wird aus dir gezogen, wenn man sie betrachtet. Über eins der Gemälde mit einer Trennung zwischen unten und oben, zwischen Erde und dem Überirdischen wird bemerkt, dass es alles mit Empedokles zu tun hat, denn er durchbricht diese Trennlinie. Das macht aus Empedokles einen Pionier und einen Märtyrer für das Volk.
Ich erzähle den Schülern, dass Egberts nicht mit meinem Bezug auf Empedokles einverstanden ist. Sein Werk beabsichtige nicht, dir eine Chance zu geben, ins Tiefe zu springen, sondern möchte dich wach schütteln und zum Denken anregen. Seine Bilder bräuchten Hölderlin nicht, sondern seien für Menschen, die selbständig und unabhängig denken wollen, bestimmt.
In dieser Unterrichtsstunde ist mir etwas aufgefallen, das mich in meinem Ansatz bestätigt. Es macht keinen Sinn, Schüler nach ihren Gefühlen zu fragen, wenn man ihnen nicht auch eine Sprache, diese Gefühle zu benennen, darreicht. Am Anfang des Kurses habe ich den Schülern das Werk von Wesdorp und Egberts gezeigt, aber es geschah nichts. Es gibt einen riesigen Unterschied zwischen damals und jetzt. Das erste Mal fand die Klasse den Film von Wesdorp so langweilig, dass ein Schüler sogar sagte “Wann fängt es endlich mal an?“ Auffällig ist, dass die Schüler heute viel alerter reagieren und sofort über ihre Gefühle sprechen möchten. So wichtig ist der Kontext, um überhaupt über Kunst sprechen zu können. Schüler brauchen eine Sprache, um etwas sehen zu können, einen Rahmen um angesprochen werden zu können.
Was für die Kunst gilt, gilt stärker noch für den Selbstmord. Empedokles bietet eine Sprache, um anders als üblich über Selbstmord nachzudenken. Er ist unvoreingenommen, das Thema ist kein Tabu mehr. Schüler sehen das auch. Selbstmord ist ein Thema, dass Jugendliche stark beschäftigt. Weil der Selbstmord jetzt nicht mehr psychologisch von der Depressivität her betrachtet wird, sondern seine metaphysische Dignität zurückbekommt, ist für mich Hölderlin derjenige Autor, der am besten geeignet ist, Jugendlichen in ihrer Entwicklung zu unterstützen. (3)
3.11.2014
Dann kommt das Schulexamen deutsche Literatur. Ich legen den Schülerinnen und Schülern 5 Thesen vor, über die im Unterricht bereits vorher diskutiert wurde. Man weiß von vornherein, dass man auf diese Thesen reagieren soll, und hat sich also optimal vorbereiten können. Lesen Sie hier, was die Schülerinnen und Schüler selber über diese Thesen sagen und welche Gefühle diese Thesen bei ihnen auslösen.
These 1 lautet: Das erste Fragment stellt in einem einzigen langen Satz die Gemütslage von Empedokles dar. Diese Stimmung kann am besten als Nihilismus charakterisiert werden. Sind Sie mit dieser These einverstanden oder nicht?
Aus 12 Schülern sind nur 2 einverstanden, und 10 also nicht. Nihilismus ist, dass man an nichts glaubt, aber Empedokles möchte gern Gott sein. Nihilismus lässt sich als Gefühl kaum erreichen, denn es ist unmöglich an nichts zu glauben. Man findet Empedokles sympathisch und arrogant. Man spürt, dass er die Hoffnung aufgegeben hat und dass ihm die Welt abhanden gekommen ist. Das löst Mitleid und Verständnis aus.
These 2 lautet: Empedokles gründet in unserem zweiten Fragment die Demokratie auf die menschliche Freiheit und grundiert jene Freiheit ihrerseits auf das Selbstverfügungsrecht des Einzelnen über das eigene Leben. Sind Sie einverstanden oder haben Sie eine andere Auffassung über Demokratie?
Konnte man sich in die erste These noch wohl einigermaßen hineinversetzen, bei These 2 ist das viel weniger der Fall. Das Wahlergebnis ist noch wohl identisch: 2 einverstanden, 10 nicht. Viele Schüler finden, dass die Definition von Empedokles zu weit geht. Man bleibt bei der Auffassung, dass Demokratie ein System mit Regeln ist, das wie auch immer Freiheiten auch einschränkt. Man kann nicht jedermann seinen Willen lassen. Die Mehrheit von Stimmen ist schon sehr viel. Aber es gibt auch andere Meinungen. Ist Demokratie überhaupt möglich? Ist diese Auffassung von Freiheit nicht viel zu radikal? Aber es gibt auch einen Schüler, der völlig mit Empedokles einverstanden ist und ihn als einen weisen Führer betrachtet, weil er die Angst vor dem Tod wegnimmt.
These 3: In unserem sechsten Fragment ist Empedokles “der Berufene, der töte und belebe, in dem und durch den eine Welt sich zugleich auflöse und erneue”. Sind Sie mit Manes einverstanden oder nicht?
Diese These löst den meisten Widerstand aus. Das Wahlergebnis ist erneut 2 einverstanden, 10 nicht. Man glaubt nicht an ein Opfer oder an einen Sündenbock. Diese Auffassung wird als antiquiert betrachtet und ruft auch hie und da Entrüstung hervor. Trotzdem gibt es auch Schüler, die wohl mit Manes einverstanden sind. Sie sehen in Empedokles einen Messias und eine Christusfigur. Sie spüren etwas von einer religiösen Erlösung in diesem Stück.
These 4: Wesdorps Film Out of Nothing lässt stark an Empedokles denken. Die Hügel aus Anthrazit sind die Ränder des Ätna. Der Puls ist der Herzschlag von Empedokles. Es sind die letzten Schritte des Philosophen bevor er sich in den Ätna stürzt. Einverstanden oder nicht?
Bemerkenswertes Ergebnis: 50 zu 50 %. Schülerinnen und Schüler, die nicht einverstanden sind, finden den Puls zu ruhig. Er sollte schneller gehen, da Empedokles auf dem Punkt steht, abzuspringen. Andere, die mit der These uneinig sind, finden, dass der Puls wie auf der Flucht klingt. Schüler, die einverstanden sind, erkennen die Ruhe wieder. Die zur Entschlossenheit des Philosophen gehört. Die Jasager erfahren Serenität und Gelassenheit, ein Erwachen aus dem Nichts. Man wird durch den schönen Gedanken gerührt. Bei den Neinsagern ist auch jemand, der glaubt, dass es nicht Empedokles selbst ist, sondern ein anderer, der nach ihm kommt und nochmals über den Pfad geht ohne selbst abzuspringen. Alles in allem benutzt die Klasse bei dieser These mehr ihre Phantasie als bei den ersten drei Thesen. Es wird jetzt mehr in Bildern gedacht.
These 5 zum Schluss: Über Empedokles lässt sich eine Beziehung zwischen Marcel Wesdorp und Otto Egberts herstellen. Der Bezug zwischen Empedokles und Egberts ist, dass sie beide etwas hinter sich lassen, und zwar an Alltäglichem und Relativem. Empedokles schmerzt alles, was relativ ist. Daher seine Sehnsucht nach dem Absoluten. Die Malerei von Egberts dokumentiert dieses Absolute. Seine Bilder ermöglichen eine Meditation, wobei man mit der Weltseele eins wird. Es sind mystische Bilder. Seine Gemälde sollten wie der Film von Wesdorp an den Hügeln des Ätna in der Nähe des Kraters angesiedelt werden. Einverstanden oder nicht?
Erneut ist das Wahlergebnis fünfzig zu fünfzig. Die Erdfarben der Bilder von Egberts lassen an Gestein denken und das ist kein Zufall, denn Gestein ist ein absoluter Gegenstand. Die Bilder spielen sich nicht am Ätna ab, sondern sind das Grab des Philosophen. Die Bilder handeln nicht von Empedokles, sondern von Manes, der hinterlassen ist und für den das Vergessen bereits begonnen hat.
Anmerkungen
1.
Einer meiner Schüler, der dem Kurs über die Athenerrede gefolgt hat, bemerkt, dass er sich bei der Lektüre von Kleist freier fühlt als bei Hölderlin, und dass er klassische deutsche Literatur gegenüber zeitgenössischer, wie Spieltrieb von Juli Zeh bevorzugt, ein Buch, das wir in der vierten Klasse gelesen haben. Dieser Roman über die Schule von heute kommt zu nahe, es ist die Entfernung in der Zeit, die Autoren wie Hölderlin und Kleist so attraktiv (und auch wohl weniger bedrohlich) macht.
2.
Die Schülerinnen und Schüler, die jetzt Abitur machen, haben nicht alle in der dritten Klasse Kafka gelesen und eine Klassenarbeit über Vor dem Gesetz geschrieben. Darum wurde die folgende These hier nicht vorgelegt. Der Mann vom Lande kann bei Kafka nicht in das Gesetz eintreten und wird durch das Licht hinter dem Tor überwältigt. Wird der Mann vom Lande gelähmt und gehemmt, so fühlt sich Empedokles maßlos vom Absoluten hingezogen. Er erwartet mit seinem Sprung endgültig ein neues Gesetz für Agrigent festzulegen und so eine neue Periode für die Stadt einzuleiten. Während der Mann bei Kafka seine eigene Identität aufs Spiel setzt, indem er wartet, schenkt Empedokles sich gänzlich weg und verschwendet sich selbst wie man eine Perle ins Meer wirft. Vielleicht, dass diese These ein andermal in einem folgenden Kurs den Schülern vorgelegt werden kann.
3.
Goethe war ein älterer Zeitgenosse von Hölderlin. Mit seinem Werther hat er einen richtigen Selbstmordhype entfesselt. Aber Goethe hat nicht die Unvoreingenommenheit von Hölderlin. Der Selbstmord wird bei ihm aus Liebeskummer und einem Gefühl von fehlender Anerkennung begannen. Trotzdem hat auch hier die Literatur eine heilsame Wirkung gehabt. Werther wählt den Freitod, Goethe nicht.
Gerne danke ich dem stellvertretenden Präsidenten der Hölderlin-Gesellschaft, Herrn Prof. Dr. Michael Franz, für seine Hilfe und wichtige Hinweise.