Fiktives Gespräch mit Martin Heidegger über diese Website. Heidegger kritisiert meine Auffassung des Absoluten als mit der Welt verschmelzen und stellt ihr seine eigene Auffassung vom Seyn gegenüber. Aber er ermutigt mich auch, mit meinen Hölderlin-Forschungen weiter zu machen und fordert mich auf, dabei der Rolle Hölderlins in seinen Schwarzen Heften besondere Aufmerksamkeit zu widmen.
I Die Niederlande in der klassischen deutschen Literatur und Philosophie
II Der andere Anfang jenseits des Absoluten
III Empedokles zwischen erstem und anderem Anfang
IV Seinsverlassenheit und Kulturpolitik
I Die Niederlande in der klassischen deutschen Literatur und Philosophie
Eric Bolle
Herr Professor Heidegger, ich freue mich, dass Sie mit mir sprechen und eine Reaktion auf meine neue Website geben wollen. Wenn ich Ihr Werk lese, verwandle ich mich völlig. Ich werde ein anderer Mensch. Ich werde ruhig und die täglichen Dinge verlieren ihre Bedeutung. Aber der Druck wird nicht geringer. Im Gegenteil. Indem ich Sie lese, entsteht ein neuer Stress. Ich werde vom Sein zugesprochen. Einerseits verschwindet der Leistungsdruck und das wirkt befreiend. Andererseits entsteht eine neue Verpflichtung: auf das Sein hören, und das ist belastend.
Auf etwas hören und etwas mit mir geschehen lassen ist für mich nicht einfach. Ich habe Angst vor Kontrollverlust. Trotzdem war es für mich von Anfang an wichtig, mich beim Philosophiestudium treiben zu lassen, ohne Ziel herumzuwandern mit nur meiner Intuition als Führer.
Drei Dinge haben mich dabei angeregt: das gute Vorbild meines Deutschlehrers, der im Unterricht viel über Philosophie sprach, die Worte von Michel Foucault im Fernsehinterview von Fons Elders mit ihm und Noam Chomsky, und Ihr Interview mit Der Spiegel. Diese drei Dinge haben mich an die Philosophie herangebracht. Sie sind für mich der erste Anfang. In der gleichen Woche, in der Sie starben und das Spiegel-Interview erschien, fing ich an, Philosophie zu studieren. Im Mai 1976 sprach jedermann über Sie.
Martin Heidegger
Ich habe Ihre Einladung gerne angenommen. Obwohl ich im Radio und Fernsehen war und Dem Spiegel ein Interview gegeben habe, bin ich doch ziemlich scheu und meide ich die Öffentlichkeit. Drei Dinge waren für mich ausschlaggebend, mit Ihnen zu sprechen: die ausgezeichnete Rolle der Niederlande für die klassische deutsche Philosophie und Literatur, die Rezeption meiner Werke in den Niederlanden und natürlich Ihre Website selbst. Ich möchte Ihnen erklären, warum mein Denken sich jenseits des Absoluten aufhält und bricht mit vielen Sachen, die wichtig für Sie scheinen. Hoffentlich lernen Sie von meiner Kritik.
Holland ist ein wichtiges Land für die klassische deutsche Literatur und Philosophie. Es funktioniert als Führer zur Freiheit. Goethe verehrte Egmont. Schiller verfasste die Geschichte des Aufstands gegen Spanien. In den Augen Hegels ist es das Verdienst der alten niederländischen Meister, die Malerei von der Religion befreit und den Wert des Alltäglichen aufgezeigt zu haben. Das Alltägliche, gewöhnliche Sachen in ihrem Sein und weiter nichts, das ist eine echt niederländische Erfindung. Schelling ist als einziger aus dieser Zeit in Holland gewesen. Er war auch in Ihrem Geburtsort Scheveningen und hat einen Tag am Strand verbracht. Vielleicht hat er am Meer dasselbe Gefühl von Unendlichkeit wie Sie gehabt.
Ja, Holland ist ein wichtiges Land für mich. In den dreißiger Jahren habe ich einen Vortrag an der ISVW (Internationale School voor Wijsbegeerte | Internationale Schule für Philosophie) in Leusden gehalten. Auch kann ich mich noch gut daran erinnern, dass Jan Aler mir anschließend Amsterdam gezeigt hat und dass wir zusammen die Gemälde von van Gogh gesehen haben (Heidegger: Gesamtausgabe, GA 16, 723-724).
Ich fühlte mich aber oft schwindelig. Es ist ein so weites Land. Der Horizont ist viel entfernter als im Süden Deutschlands, wo es immer Hügel und Berge gibt. Ich bin von der Leere der niederländischen Landschaft und vom enormen Abstand zum Himmel erschrocken. Ich kann mich in der Tiefebene nicht orientieren. Mir gefallen Wälder und Berge besser.
E.B.
Bei mir ist es umgekehrt. In Mitteleuropa fühle ich mich beklemmt und eingesperrt . Es ist als ob der Himmel auf mich fällt und ich keine Luft bekomme. Mir gefallen das Meer und der Strand besser.
M.H.
Der zweite Grund, ihre Einladung zu akzeptieren, ist die Rezeption meines Werkes in den Niederlanden. Ich freue mich über die Übersetzungen und das Interesse an den Universitäten und anderen Institutionen. Ich weiß nicht, zu welchen Ergebnissen es führen wird, aber ich weiß, dass man in Leiden tief in mein Denken eingedrungen ist. Ich denke dabei vor allem an Rob van Dijk, Gerard Visser und Wouter Oudemans. Was Oudemans zu meiner Rektoratsrede in seinem Buch Omertà schreibt ist vorurteilsfrei. Oudemans hat mich wirklich verstanden.
Der dritte Grund ist Ihre Website selbst. Verstehe ich Sie richtig, dass für Sie Sein vor allem bedeutet völlig mit der Welt zusammenzufallen, und dass das Sie fesselt an Autoren wie Hölderlin und Musil?
E.B.
Ja, ich frage mich, was der andere Zustand bei Musil mit Ihrem anderen Anfang zu tun hat und mich interessiert wie Hölderlins Empedokles eins mit der Natur werden will, indem er in den Ätna springt. Das sind für mich zwei Gestalten des Absoluten, worüber ich nicht zu Ende denken kann.
M.H.
Im Fall Musil kann ich Ihre Frage nicht beantworten. Ich kenne sein Werk nicht. Hölderlins Empedokles spielt schon eine wichtige Rolle für mich. Ich habe viel über ihn geschrieben, aber habe fast alles vernichtet. Ich war damit nicht zufrieden (GA 75, 404)
II Der andere Anfang jenseits des Absoluten
Aber fangen wir beim Anfang an und versuchen wir, systematisch vorzugehen. Fangen wir beim Anfang an, bei uns selbst, beim Statut des Denkers. Sie reden von der Erleichterung und vom Stress, den Sie beim Lesen meines Werkes empfinden. Erleichterung, weil Sie nicht mehr zu leisten brauchen und Erfolg keinen Wert mehr darstellt. Stress, weile eine neue Aufgabe dazu kommt: Hören auf das Sein, das Sein etwas mit Ihnen machen lassen.
Angst vor Kontrollverlust scheint mir dabei völlig normal. Moderne Menschen denken in Beständen. Aus der Philosophie ist ein Supermarkt geworden, woraus man je nach Belieben schöpfen kann. Das gehört zum Wesen des abendländischen Denkens als Metaphysik. Alles und jedermann wird allem und jedermann zur Verfügung gestellt. Nichts und niemand besteht noch für sich selbst. Alles wird zu Material. Die Seienden sind enteignet, sie sind dazu gezwungen, da zu sein. Wir sollten versuchen, diesen Zwang zu beheben und die Metaphysik zu überwinden.
Erlauben Sie mir, ein kleines Stück von mir selber zu zitieren: „Die Überwindung der Metaphysik ist nicht eine ‚Leistung‘ von Denkern, die ihre Gedanken über die Vorstellungsweise der ‚Philosophen’ hinaus bringen. Die ‚Überwindung‘ ist die Geschichte des Seyns zu der Frist, da dieses die Enteignung des Seienden zurücknimmt. Die ‚Überwindung‘ hat hier nirgends den Anspruch des Niederzwingens, das herabsetzt und beseitigt. Das seynsgeschichtliche Denken ist stets eine Würdigung des Seyns.“ (GA 71, 168)
Der Denker vernimmt das Sein. Aber das Sein ist ein doppeldeutiger Begriff. Deshalb mache ich einen Unterschied in der Rechtschreibung. Es gibt das Sein im ausgezeichneten Sinn. Es ist nicht nur das Allerälteste sondern auch das Allerneueste. Es ist der Ursprung vor dem Ursprung und es offenbart sich, indem es sich verbirgt. Dieses Sein buchstabiere ich wie es um 1800 üblich war: Seyn. Man kennt diese Orthographie z.B. aus kritischen Editionen von Hölderlin.
Diese Seyn entzieht sich, aber hinterlässt im Entzug eine Spur, in der es erlaubt, das Sein des Seienden auf einen Begriff zu bringen und so beherrschbar zu machen. Zu gleicher Zeit werden die Seienden dadurch enteignet. Sie bestehen nicht mehr für sich selbst. Das ist die Seiendheit. Sie ermöglicht es, das Sein zu benennen und es als Idee, Substanz, Arbeit oder Macht in den Griff zu bekommen. Alles Grundbegriffe der Metaphysik. Für dieses Sein der Seienden, für diese Seiendheit benutze ich die übliche Rechtschreibung: Sein.
Was ich immer wieder versucht habe, ist das Seyn hinter dem Sein aufzuzeigen und somit zu einem anderen Anfang zu kommen. Diesen anderen Anfang hat es je gegeben und gibt es noch, nur unsichtbar. Es kommt ein Augenblick, wo das Seyn wieder sichtbar wird. Solange das aber noch nicht der Fall ist, ist es unsere Aufgabe, uns zu besinnen, Fragen zu stellen und zu warten. Das Fragen ist die Frömmigkeit des Denkens.
E.B.
Könnte man sagen, dass die Bestände der Philosophie, die man schön in Folie verpackt aus dem Supermarkt holt, von Intellektuellen verwaltet werden? Menschen, die verstehen, welche Denkbilder die Gesellschaft braucht, und die dazu imstande sind, diesem Bedarf entgegenzukommen? In den Niederlanden ist die Philosophie enorm beliebt. Im vielgelesenen Blatt Filosofie Magazine kann man sehen, wie gut man dazu imstande ist, zu jeder Situation die geeigneten Ideen zu finden. Es ist eine wahrhafte Publikumsphilosophie entstanden.
Das wäre die Rolle der Intellektuellen. Philosophen sind schon weiter. Für sie besteht die Geschichte ihres Fachs nicht aus verfügbaren Beständen. Sie leiden unter dem Mangel an Einsicht und Zusammenhang und versuchen, Ursprung und Totalität des Seins in Worten zu fangen. Dabei gelingt es ihnen, das Sein zu benennen und zu durchdenken, sie sehen aber keinen Schimmer vom Seyn. Sie fahren sich fest in der Seinsvergessenheit, wie Sie das nennen. Aber anders als die Intellektuellen haben sie eine Spur des Seins, das immer in jedem Bestand fühlbar ist, in Händen.
Das Seyn wäre dann der exklusive Bereich des Denkers, der bereit ist, sich in Einsamkeit seiner Aufgabe zu widmen. Denn der andere Anfang scheint mir nicht etwas zu sein, das man leicht mit anderen teilen kann. Es ist nicht etwas soziales. Man kann kaum darüber kommunizieren. Botho Strauss empfindet gerade aus diesem Grund viel Sympathie für Sie. Er mag Ihre Gedichte, weil Sie keine Angst haben, eine eigene Sprache zu benutzen. Ihre an die Vorsokratiker erinnernde Texte brechen mit dem kommunikativen Paradigma. (GA 81)
Können Sie etwas mit diesem Unterschied und vielleicht auch mit den verschiedenen Stadien vom Intellektuellen zum Philosophen und vom Philosophen zum Denker anfangen?
M.H.
Ihr Urteil über die Rolle der Intellektuellen ist mir doch zu streng. Intellektuellen brauchen gar nicht aus der Welt der Philosophie zu kommen. Hauptsache ist, dass sie Medien und Journalistik, Meinungsbildung und Debatte mögen. Persönlich mag ich diese Dinge zwar nicht, aber ich bin ein großer Befürworter der praktischen Philosophie. Ich bin Medard Boss noch immer dankbar, dass ich in Zollikon für Ärzte habe lesen können. Und ich mag Psychiater. Meine Ideen zum Ende der Philosophie und zur Aufgabe des Denkens habe ich mit dem Ziel verfasst, Ludwig Binswanger zu ehren. (GA 16, 620-633) So gewinnt die Philosophie Bedeutung für das tägliche Leben und kann sie Menschen mit psychischen Problemen helfen. Außerdem ist es möglich über das eigene Fach zu sprechen ohne Zugeständnisse zu machen.
Was mir an Ihnen auffällt ist, dass Sie die Unterschiede zwischen diesen Aktivitäten nicht relativieren wollen und das Denken ziemlich absolut nehmen. Das Absolute, darum geht es Ihnen. Da wir jetzt die Philosophie in ihrem Kontext betrachtet haben, können wir einen ersten Blick auf Ihre Website und auf das Absolute werfen. Wiederum ein Zitat aus eigenen Werk, um die Meditation einzuleiten: „Das Seyn ist, sofern es sich nie aus dem Seienden ableiten und durch Dinge be-dingen lässt, das Un-bedingte. Das Seyn ist, sofern es nicht erst durch Beziehung auf Seiendes ist, das nicht Relative und solcher Art das Ab-solute.“ (GA 74, 22)
Sie finden mich also an Ihrer Seite, wenn es um das Absolute geht. Man kann das Seyn nicht relativieren. Es hat keinen Bezug zum Seienden wie das Sein und ist also absolut. Aus der Metaphysik gelöst, steht es außer ihrer Machenschaft und lässt es sich nicht unter einem Begriff zusammenfassen oder als Bestand verpacken.
Aber das Seyn ist nun auch wieder nicht so absolut, dass wir davon keinen Schimmer sehen können. Überall gibt es Spuren, aber sie sind oft unsichtbar. (E.B.: Sind es dann wirklich Spuren?) Es gibt ja keine Seienden ohne Sein und es gibt keine Seiendheit (Sein) ohne Seyn. Der Entzug des Seyns hinterlässt Spuren. Die wichtigste Spur ist die Spätlyrik Hölderlins, worüber wir noch sprechen werden. Also:
„Aber die Metaphysik wäre nicht die Metaphysik, d.h. die Wahrheit des Seienden als solchen, wenn sie nicht aus dem Seyn weste, da ja auch die Seiendheit noch vom Wesen des Seyns bleibt. Und deshalb sind in der Metaphysik, wenn wir einmal erfahrener geworden, überall doch Anklänge des Anfangs. Aber sie sind umgedeutet und erscheinen als das Insichruhende – Absolute, Unbedingte, der ‚Ursprung’ und das Prinzip und verwehren so aus sich, dass noch anders als in ihrem Maß und Sinne dem Anfang nachgefragt wir. Sogar in der Seinsvergessenheit der Metaphysik, der gemäß sie die Wahrheit des Seyns und in ihr das Seyn selbst nie erfahren kann, west noch das erstanfängliche Wesen des Seins.“ (GA71, 104-105)
Das Seyn ist für mich also absolut, aber dieses Absolute ist nicht das Absolute der Metaphysik des deutschen Idealismus, wozu Sie sich so hingezogen fühlen. Das Absolute der Metaphysik hindert mehr die Sicht auf das Seyn als dass sie dazu anregt. Auch der deutsche Idealismus ist durch die Seinsvergessenheit gezeichnet, wenn er auch mehr als andere philosophische Strömungen einen Schimmer aufzeigt von dem, worum es mir geht.
Herr Dr. Bolle, Sie haben also die Wahl zwischen meinem Absoluten und dem Absoluten des deutschen Idealismus. Diese Wahl entscheidet über Ihren Weg als Philosophen. Den Stress dieser Entscheidung kann ich Ihnen nicht ersparen.
E.B.
Ich ahnte schon, dass unser Gespräch hierauf hinauslaufen würde.
M.H.
Der Zusammenfall mit der Welt, der Sie so fesselt an der deutschen Literatur, diese Ekstase von zum Beispiel Hölderlins Hyperion oder die Trance von Hölderlins Empedokles, bei aller Liebe zu Hölderlin muss ich Sie doch darauf hinweisen, dass das ein Irrweg ist. Aber das denken kann nicht ohne die Irre, alle Wege sind ja Holzwege. Die Kraft Hölderlins liegt irgendwo sonst, nämlich in seiner späten Lyrik.
Es würde mir gefallen, wenn die Menschen damit aufhören würden, immer wieder Sein und Zeit als mein Hauptwerk zu betrachten. Die beste Einleitung zu meinem Denken bildet mein Kommentar zu Hölderlins Hymne Andenken (GA 52).
Halten wir also als erste Reaktion auf Ihre Website fest, dass das Absolute im Sinne des eins werden mit allem was ist nicht meine Auffassung vom Absoluten darstellt und dass diese Erfahrung des Absoluten die Sicht auf das Seyn eher verhindert als anregt. Der andere Anfang liegt jenseits des Absoluten.
III Empedokles zwischen erstem und anderem Anfang
E.B.
Wollen wir uns jetzt mit Hölderlin befassen. Ihre Hölderlin-Deutungen haben mich tief beeindruckt und ich beschäftige mich noch immer mit ihnen. Ich betrachte sie als das Wichtigste, das Sie geschrieben habe. Es tut mir leid, dass sie in der Debatte über Ihr Werk kaum eine Rolle zu spielen scheinen.
In den achtziger Jahren, als ich diese Interpretationen zum ersten Mal erforschte, war es noch gut möglich, mit anderen Hölderlin-Forschern über Sie zu sprechen. Das hat sich aber in den vergangenen Jahrzehnten geändert. Man rechnet Sie nicht mehr zur Hölderlin-Forschung. In Kreuzers maßgebendem Hölderlin-Handbuch rechnet man Sie zur Hölderlin-Rezeption und in der jüngst erschienenen Henrich-Festschrift ist man der Meinung, dass Henrich Hölderlin viel besser als Sie verstanden hat und werden Sie in den George-Kreis beigesetzt. Was halten Sie davon?
M.H.
Schade, aber da kann man nichts machen. Die Hölderlin-Forschung zielt heutzutage vor allem auf genaueste historische Rekonstruktion. Für sie geht es nicht um die Aktualität Hölderlins. Die ist mittlerweile jedermann klar. Die historische Forschung ist wichtig und im Fall Hölderlins sicher von Bedeutung. Aber auch sie ist nicht ohne Risiko. Wissenschaftliche Untersuchungen können nie das Ungedachte des Seyns aufzeigen. Das gilt nicht nur für die Literaturwissenschaft. Wissenschaft kann sich überhaupt nicht gegen die Seinsvergessenheit verteidigen. Aber schließlich glaube ich, dass es gut ist, dass die Hölderlin-Forschung sich von mir distanziert. Die neuen kritischen Editionen, die detaillierten philologischen Recherchen, die immer sorgfältiger zustande gekommenen Kommentare, ich finde es faszinierend. Wenn ich Sie wäre, würde ich bestimmt Kontakt zu diesen Forschern suchen und ihrer Arbeit verfolgen. Das ist sicher eine bessere Wahl als die für die dogmatischen Heideggerianer, die mein Werk brav wiederkauen aber das Denken nicht in Bewegung bringen.
E.B.
Ich möchte auf Hölderlins Empedokles zurückkommen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe stellt er für Sie eine Übergangsfigur dar. Er steht zwischen dem ersten und dem anderen Anfang. Sie schreiben über ihn: „Die Gestalt dieses Denkers muss sichtbar gemacht werden durch den erschließenden Rückgang auf das Da-sein, darin er – es gründend – selbst gegründet ist und das er – nicht nur als ‚Denker’ im engeren Sinn – inständlich durchforscht. Aus der Eröffnung dieses Daseins erst muss ein Blick möglich werden in das Seyn des Seienden im Ganzen, dessen Wahrheit in solchem Dasein sich gründet.“(GA 75, 336)
M.H.
Ich möchte hier um Vorsicht bitten. Ich bin mit Empedokles noch immer nicht fertig. Auf jeden Fall wird hier klar, dass der Rausch und die Ekstase der Totalempfindung, die für Sie so wichtig sind, für meine Interpretation des Empedokles keine Rolle spielen. Man soll Empedokles von Schellings intellektueller Anschauung und anderen Weisen, mit der Weltseele eins zu werden, fern halten.
Darf ich Ihnen etwas empfehlen? Jüngst sind meine Tagebücher aus den dreißiger und vierziger Jahren erschienen. Die Veröffentlichung dieser Schwarzen Hefte hat eine riesige Polemik ausgelöst. Ich weiß, dass Sie jeder Polemik abhold sind und als Niederländer nüchtern in der Welt stehen. Darf ich Sie ans Herz legen, diese Notizen zu lesen? Ich fürchte, dass sonst durch meine Fehler im Dritten Reich das Thema Hölderlin in meinen Tagebüchern keine Beachting findet.
E.B.
Das werde ich tun.
M.H.
Ich verlasse mich auf Sie.
IV Seinsverlassenheit und Kulturpolitik
E.B.
Es ist spät geworden. Die Flasche Asbach Uralt ist fast leer. Gibt es noch etwas, worüber Sie sprechen oder das Sie den Lesern meiner Website sagen möchten?
M.H.
Ja. Wie Sie wissen habe ich ein zwiespältiges Verhältnis zur Welt der Kunst. Auf der einen Seite sehe ich eine Kunstwelt, die mehr als irgendeine andere Welt durch die Machenschaft bestimmt wird. Mit diesem Wort kennzeichne ich die Machinationen unseres Zeitalters, das vielleicht sehr lange dauern wird und das kein Ende zu finden scheint. Zur Machenschaft gehört auch die Ideologie der Kreativität, die Auffassung, dass alles einschließlich der Mensch machbar ist.
Künstler spielen eine wichtige Rolle im Kult der Kreativität, sie müssen ständig wieder das Bild schöpfen, dass unsere Gesellschaft sowohl in technologischer als in sozialer Hinsicht innovativ ist und bleiben kann. Aber Machenschaft bedeutet auch Ränke und Intrigen. Kunst und Wille zur Macht, die gehören zusammen.
Auf der anderen Seite denke ich auch, dass die Kunst die Sicht auf einen anderen Anfang freilegen kann. In dieser Hinsicht habe ich hohe Erwartungen. Ich bin ein treuer Museumsbesucher, ein Liebhaber von van Gogh, Cézanne, Klee und Matisse (GA 81, 122). Meine Zusammenarbeit mit Chillida bedeutet viel für mich und hat mir Luft gegeben (GA 13, 203-210 und GA 16, 696)
Darum möchte ich Ihnen und Ihren Lesern zum Schluss diese Frage stellen: „Die Besinnung auf den Augenblick, in dem das Schicksal der Kunst steht. Hat sie noch eine Notwendigkeit, d.h. entspringt sie einer Not? Sind wir noch willig und stark, eine solche Not zu erfahren und auszustehen? Die Not der Flucht der Götter, der Seinsverlassenheit? Nur wenn alles Wesentliche auf diese Besinnung zielt, hat der überkommene Betrieb noch Sinn und Recht.“ (GA 74, 205)
E.B.
Herr Professor Heidegger, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
Gerne danke ich Marcel Wesdorp für die Erlaubnis, eine seiner Zeichnungen zu reproduzieren.